Ancohuma wär a Traum

Ancohuma wär a Traum

Ort: Cordillera Real / Sorata / Bolivien
Zeit: 24.09. - 01.10.2009
Aktivität: Versuch der Besteigung des Ancohuma (6427m)
Dabei: José, tres Mulas y tres Portatores
Inside: Bericht und Bilder


Die Vorgeschichte:

"Der Ancohuma wär schon ein Traum" höre ich mich sagen als ich mit Robert Rauch in einem kleinen Restaurant in La Paz Lama Steaks esse. Wir haben uns spontan verabredet um zu sehen, ob er noch Trekking- oder Bergtouren für mich organisieren kann. Meine Fernreisen sind für mich ein unschätzbarer Luxus. Diesmal sind es fünf Wochen in denen ich tun und lassen kann was ich will, wenn es sein muss auch gar nichts. Lediglich die Flüge stehen fest. Keine Uhrzeiten und Termine die mein tägliches Handeln vorbestimmen. Das einzige was ich mir im Vorfeld genauer überlegt habe ist, dass ich diesmal den Schwerpunkt auf das Wandern und Bergsteigen legen will.


Zusammen mit Robert gehe diverse Tourmöglichkeiten durch. Der Ancohuma, mit 6427m der dritthöchste Berg Boliviens, hat bereits im Vorfeld meine Aufmerksamkeit erregt. Er ist nicht einfach zu haben, man muss sich schon mindestens 4 Tage Zeit nehmen um rauf und wieder runter zu kommen. Dafür sind die technischen Schwierigkeiten nicht allzu hoch. Die leichteste Route an diesem Berg hat Yossi Brain mit PD, wenig schwierig, bewertet. Also ungefähr so schwierig wie der Grossvenediger, lach. Für mich als Liebhaber des Außergewöhnlichen und Interessent an der Campingbergsteigerei scheint dies also der ideale Berg zu sein. Bisher gab es für alle Berge die ich bestiegen habe eine Hütte und ich will jetzt auch mal wissen, wie es ist mit Zelten und dem ganzen Aufwand an so einem großen Berg unterwegs zu sein. Auch Robert passt das ganz gut. Er hat lange Jahre in Sorata, dem Ausgangspunkt für die Besteigung, gewohnt. Außerdem lässt sich der Berg bestens mit einer sehr interessanten Trekkingtour, dem Illampu Circuit, verbinden. Dieses Trekking wird ebenfalls von Sorata aus angegangen und umrundet das Illampu-Ancohuma-Massiv, so kann ich meinen Mountain Guide und die Berge schon durch das Akklimatisierungstrekking kennen lernen.

Nach ein paar kurzen Telefonaten ist dann auch schon der Guide gefunden und der grobe Plan gestrickt. Ich liebe solch schnelle und pragmatische Lösungen. Schon sind wir auch in Roberts Auto zu Christian Men vom Andean Base Camp unterwegs. Ich habe zwar eine komplette Trekkingausrüstung zum Solotrekking dabei, jedoch keinerlei Ausrüstung für das technische Bergsteigen. Zusammen suchen wir also Pickel, Plastikstiefel, Gurt, Steigeisen und was man am Gletscherberg für Gedöns braucht aus. An Christians Laden habe ich noch gute Erinnerungen. Vor ziemlich genau zwei Jahren hatte ich mir damals die Ausrüstung für die zweite Hochtour meines Lebens geliehen. Er hat mich damals sehr gut beraten, ich hatte ja keine Ahnung von nix. So konnte ich damals mit dem Huyna Potosi erstmals einen Sechstausender erfolgreich besteigen.

Bei meiner ersten Hochtour, damals auf den Chimborazo in Ecqador war ich noch bei ca. 6000m gescheitet. Heute ist es anders, inzwischen habe ich in Deutschland eine Hochtouren- und Kletterausbildung gemacht und in den Alpen selber Hochtourenerfahrungen gesammelt, kenne den Krempel den man braucht also. Robert und Christian kennen sich ebenfalls, so ist es ein bisschen wie ein Zusammentreffen unter Freunden. Da ich die Sachen für das Bergsteigen erst nach dem Trekking brauche handeln wir mit Christian aus, dass er es erst mal zwischenlagert und eine Bekannte von Robert die Sachen bei Bedarf nach Sorata fährt. Robert lässt es sich nicht nehmen mich trotz knapper Zeit persönlich nach Sorata zu fahren und mich dem José für die Trekkingtour vorzustellen. Siehe dazu den Bericht zum Illampu Trekking.

 


Zustieg:

Es ist 11:00 und zwei Pausetage nach dem Trekking als mich José in meinem Hostal is Sorata abholt. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch gar nichts von Josés Berühmtheit, erst später finde ich heraus, dass er in Roberts Buch Timewalk erwähnt und abgebildet ist. Wir haben im Vorfeld besprochen, den Berg langsam angehen zu lassen und kurze Etappen zu machen. Auf der Trekkingtour hatte ich zum Schluss auf einem Pass immer noch ziemlich Kopfweh und will bezüglich der Akklimatisierung auf der sicheren Seite sein. José hat auch nichts dagegen, eher im Gegenteil. Er wird pro Tag bezahlt und der Tourismus in Bolivien ist im Moment stark rückläufig. Es sind die schlechtesten Zeiten seit Jahren. Die zwei Wochen Arbeit für mich sind also ein Segen für José. Dieses Geld muss er dann schon nicht mehr durch schlecht bezahlte Knochenarbeit in einer primitiven bolivianischen Mine verdienen um seine Familie durchzubringen.


Wir lesen noch Ausrüstung von einem Depot in der Stadt auf bevor wir mit dem Taxi an der Stadtgrenze anhalten. Hier hat José seine Mulis geparkt, sie sind nicht innenstadtkonform. Diesmal sind es drei. Chico Mula und Seniora Mula haben zusätzliche Gesellschaft bekommen um die technische Bergausrüstung zu tragen. Mit den bepackten vierbeinigen Helfern geht es durch enge und steile Fußwege der Vororte von Sorata hinaus. Marco, Josés 10 jähriger Sohn, stößt zu uns und hilft die Mulis zu führen. Ich versuche das Tempo der Locals zu halten und komme ins Schwitzen, dabei merke ich aber, dass meine Leistungsfähigkeit gegenüber den ersten Trekkingtagen deutlich besser geworden ist. Als außerhalb der Dörfer die Äcker in weite Weideflächen übergehen, schlagen wir in einem Becken unser Lager auf.

Es ist noch früh am Mittag und ich erkunde die Gegend. Mir fällt auf, dass nicht nur José sondern auch die einheimischen Hirten alle ein Transistorradio bei sich haben. Es muss sich hier um einen Flecken mit der wahrscheinlich höchsten Transistorradiodichte weltweit handeln. Ich überlege kurz ob es nicht energetisch sinnvoller wäre alle 500m einen Lautsprechermasten aufzustellen. Für mich klingt die kreolische Musik die aus den Sony Volksempfängern strudelt eh alle gleich. Es scheint nur fünf Grundrhythmen zu geben und die größtmöglich feststellbaren Unterschiede bestehen in der Art und Lautstärke der Zwischenrufe. Des weiteren fällt mir auf, dass auf einer flachen Ebene fast alles umgegraben ist. Einheimische graben hier nach Gold, erklärt mir später José auf Nachfrage. Von daher nennen wir unseren Lagerplatz künftig Camparmento de oro.


José hat diesmal sein kleines 1 Mann Zelt zu Hause gelassen und dafür ein rundes Pfadfinderzelt mit ca. 3 Metern Durchmesser mitgenommen. Jurtenfeeling kommt also auf als wir im großen Zelt kochen und essen. Warm und gemütlich, es ist eine Wohltat da das Wetter am Nachmittag schlechter geworden ist. Es wäre ein bisschen wie bei den Nomaden Asiens, sage ich zu José. Erst nach weiteren Erklärungen will er mir glauben, dass es Menschen gibt die ihr Leben ausschließlich im Zelt verbringen. Außerdem gibt es diesmal noch eine Pfanne. José brät frisches Hühnchen, welch Festessen zum Auftakt. Da Wochenende und somit keine Schule ist begleitet uns Marco noch zwei Tage. Vater und Sohn reden untereinander Aymara von dem ich kein Wort verstehe.



Tag 2:

An unserem zweiten Tag haben wir immer noch keine Hektik. Wir frühstücken gemütlich, José hat Rührei gemacht. Wie immer gibt es reichlich. Ich biete Marco mehr von dem Rührei an. José ist gerade zufällig draußen. Marco blickt verstohlen aus dem Zelt. Ob sein Vater ja nichts sieht, dann erst stimmt er zu. Ein ungewöhnliches Szenario für uns Reiche. Bolivien ist ein Land in dem viele täglich hungrig vom Abendessen aufstehen. Das ist mir fremd. Nachdem die Mulis bepackt sind überlegen es sich die Sturköpfe auf den ersten Wegmetern anders, geben ihrem Heimweh nach und wechseln eigeninitiativ die Wegrichtung. Doch schon nach 15 Minuten sind sie wieder eingefangen und auf dem richtigen Weg. Nach weiteren drei Stunden schon sind wir am Ziel für heute, dem wunderschönen Bergsee Laguna Chilata.

Eine Horde Touristen mit Kindern, Tagesausflügler, begrüßen uns am See. Es ist reichlich Zeit, ich spaziere um den See und hample etwas an den Felsen herum um Bewegung zu haben. Ein Kondor dreht ein paar Runden über uns um schließlich schwerelos davon zu segeln.In der Luft so unglaublich elegant, am Boden aber so hässlich. Das Wetter ist durchwachsen und ich verkrieche mich zu den Jungs in der Jurte. Ich photographiere etwas herum, Marco ist sehr begeistert von meiner Digitalkamera, auf der man die Bilder gleich betrachten kann. Das ist hier immer noch kaum verbreitet unter den Einheimischen. Breites Grinsen überzieht sein Gesicht als er selber erste Bilder mit einer Digitalkamera macht und diese gleich ansehen kann.



Tag 3:

Den dritten Tag beginnen wir mit einer Pfannkuchenparty. Für mich als bekennenden Wellnessbergsteiger ein richtiger Traum. Damit begrüßen wir die drei Portatores, Träger, welche die Mulis ablösen. Irgendwie fühle ich mich aber auch ein kleinwenig schlecht, weil ich fünf Leute beschäftigen muss um auf diesen Berg zu kommen. Na ja, andererseits ist ja Bolivien ein Land mit hoher Arbeitslosigkeit und selten lässt sich Egoismus und gute Tat so einfach unter einen Hut bringen. Die Träger lachen viel und haben durchaus auch ihren Spaß, manchmal werde ich mir sogar vorkommen, als wäre ich völlige Nebensache. Es ist 10:00 Uhr als wir gepackt haben und Marco, der zehnjährige Bub, die drei Mulis alleine nach Hause treibt.

Der Weg in Richtung Heimat ist zwar immer einfacher, das haben wir ja schon mehrfach gelernt, trotzdem habe ich Respekt für seinen souveränen Umgang mit den dickschädeligen Viechern. Kurz oberhalb der Laguna treffen wir auf einen Pulk Rückkehrer. Es sind zwei Skibergsteiger die müde mit ausdruckslosen Gesichtern hinabsteigen, begleitet von Führern und Trägern. Eigentlich eine gute Gelegenheit sich nach dem Bedingungen am Berg zu erkundigen, sie kommen vom Ancohuma zurück. Ihre Zurückhaltung lässt nichts Gutes ahnen und ich gehe sehr gerne unvoreingenommen an den Berg. Deshalb grüße ich sie nur kurz mit einem Hola und lasse sie passieren. José kommentiert das Unternehmen mit einem verständnislosen Kopfschütteln. Skifahren kann man nämlich auf dem Berg kaum, wenn es dafür überhaupt geeignete Bedingungen gibt dann nur für die letzten ca. 800 hm, wenn man also den Zustieg mit einbezieht liegt der mögliche Skianteil der Tour bei ca. 10 Prozent. Dafür muss man die Dinger aber weit durch die Berge tragen.


Schnell wird klar, warum die Mulis hier nicht behilflich sein können. Den ganzen Tag laufen wir über Moränen, Geröll- und Blockfelshalden und schräg liegende Platten. Ein richtiges Scheißgelände. Dazu kommt schlechtes Wetter, erst Nebel der bis auf 15m zumacht und dann Niederschlag, hier oben in Form von Regen und dann styroporkugelartigem Schneefall. Die glatten Felsplatten und Blockfelsen verwandeln sich in gefährliche Rutschbahnen. Erstmals überlege ich mir ernsthaft, was ich hier überhaupt tue. Unten in Sorata gäbe es Bier, Pizza und Chicas - und was mache ich? Quäle mich unter scheiß Bedingungen so einen blöden Berg hoch. Als es etwas aufmacht können wir über die Täler von oben auf den Titicacasee schauen. Welch erhabener Anblick auf den in 3800m Höhe liegenden blauen Riesentümpel, immerhin 15 mal so groß wie der Bodensee.

Schon geht es wieder etwas besser. Unser Ziel ist für heute die wunderschöne Laguna Glacial. So sagt man jedenfalls. Ich nehme nur einen in einer Nebelsuppe liegenden Teich, den Sauwind und den kalten Niederschlag wahr, als José sagt wir wären da. Das Wetter ist wieder schlechter geworden und ich baue schnell mein Zelt auf um mich darin zu verkrümeln. Ich döse schon eine Weile in meinem Daunenparadies vor mich hin als es draußen ruft: "sacar fotos". Aha, das Wetter scheint freundlicher geworden zu sein und ich ziehe mir meine Klamotten über.

Tatsächlich hat es aufgerissen und es der Platz zeigt seine volle Schönheit. Vor uns liegt ein milchfarbiger Bergsee, Gletscher aus verschiedenen Richtungen münden direkt in diesen hinein. Der hintere Teil des Sees wird durch haushohe Gletscherabbrüche begrenzt. Immer wieder rumpelt es laut. Die Gletscher kalben Eis- und Geröllbrocken in Autogröße direkt in den See. Wenn man die Augen nach oben richtet, dann wird einem fast schwindlig von den fantastischen Ausblicken auf die Fels- und Gletscherflanken des Pico Schulze, des Illampu und des Ancohuma Massivs. Wird sind zwar schon auf 5000 Metern, stehen aber gefühlt immer noch am ganz am Fuße dieser Bergriesen. Dreht man sich um 180 Grad so kann man das weite San Christobal Tal überblicken, in dem Sorata liegt. Zur linken schneidet es sich zunächst sanft in die Hochebene des Altiplanos ein um dann immer weiter und tiefer zu werden, schließlich dann zur rechten am Horizont in die Yungas überzugehen. Von da setzt es sich ins Amazonasbecken fort um nach mehreren tausend Kilometern dann irgendwann in den Atlantik zu fließen. Ein wahrhaft traumhafter Ort.



Tag 4:

Noch einen weiteren Tag verbringen wir mit unserem gemütlichen Zustieg. Nun ja, genau genommen ist der überhaupt nicht mehr so gemütlich. Habe ich mich gestern schon über das etwas schwierige Gelände geärgert so ist heute der Spaß entgültig vorbei. Wir haben den ganzen Tag wegloses Gelände vor uns, nur ab und zu Trittspuren und Steinmandel. Moränen und Geröllhalden sind das Terrain des Tages, selten hat das Gestein sandgroße Körnung, meist bewegt es sich zwischen Fußball- und Fernsehergröße, ab und zu erreichen die Blöcke auch Dimensionen von kleinen Lastwagen. Die Festigkeit des Weguntergrundes teilt sich dabei in grob drei Kategorien: sehr häufig "scheiße, das hält ja gar nix", oft auch "ah, wackelt zwar, ist aber belastbar" und eher selten "boah, das ist ja richtig fest". Entsprechende Vorsicht ist beim Gehen geboten, entsprechend anstrengend ist der Aufstieg.

Das wechselhafte Wetter sorgt dann mit Schneefalleinlagen für zusätzliche Würze. Als wir nach einer Biegung zum ersten mal den Ancuhuma-Gletscher vor uns sehen stockt mir der Atem. So ein verrückter Riesengletscher, vorne erst eine Riesenwand zum Fels hin, dann ewig weite unglaublich zerklüftete Blankeisabschnitte und irgendwo weit hinten die mit Firn glatt angefüllten Gletscherhänge des eigentlichen Gipfelabschnittes. Woah, schon allein für diesen Blick hat es sich gelohnt hierher aufzusteigen und Mann, fühl ich mich klein.

Wir folgen eine Weile noch dem Geröll in einem schmalen Abschnitt zwischen Gletscher und einer Felswand. Dann rüsten wir für den Gletscher auf. Ein Stück des Blankeisgletschers muss überquert werden um einen eisfreien Felsbereich für das Hochlager zu erreichen. „Letztes Jahr sah das alles noch ganz anders aus“, erinnert sich José. Irgendwie findet er aber doch einen Weg durch das endlos scheinende Spaltenlabyrinth. Einmal schlagen wir Stufen in eine knapp zwei Meter hohe und 70 Grad steile Eisflanke um sie mit den Trägern überwinden zu können. Schließlich erreichen wir auf ca. 5500m die Felsfläche für das Hochlager. Wir schlagen die Zelte auf, sortieren das Material für den morgigen Tag, essen zu Abend und legen uns hin. Ich fühle mich gut, habe keine Höhenbeschwerden und kann sogar einigermaßen Schlafen.



 


Gipfeltag und Abstieg:

Mein Langschläfergemüt freut sich, als ich nach einem kurzen Wecken um zwei Uhr nachts wieder in den Schlafsack krieche. Das ist allerdings das einzige an mir, das sich freut. Der Rest von mir ist aufgewühlt und mit Wehmut ausgefüllt. José ist war ans Zelt gekommen und hatte mich zu der vereinbarten Zeit geweckt. Ich hatte tief geschlafen, so tief, dass ich den nächtlichen Schneefall nicht mitbekommen habe und jetzt von der schlechten Nachricht überrascht werde. Der ganze Berg ist mit mindestens 15 cm weißer Pracht überzogen und der Nachschub von oben ist noch nicht abgerissen. José sagt mir, mit einem sehr ernsten Ausdruck im Gesicht, dass er empfehlen würde nicht zu gehen. Wie immer überlässt er die finale Entscheidung aber mir. Instinktiv stimme ich sofort mit ihm überein, will aber so schnell nicht aufgeben und gehe die Argumente nochmals rational durch: Die Tour wird viel schwerer, wir müssen alles Spuren. Der immer noch fallende Schnee ist schwer und nass, spätestens nach einer Stunde würde er uns komplett durchweichen. Die Orientierung ist bei der geringen Sicht schwer. Nochmals deutlicher sprechen die Argumente bzgl. der Sicherheit. Die Spaltensturzgefahr hat sich aufgrund des Spalten verdeckenden und nicht tragenden Neuschnees um ein vielfaches erhöht. Hinzu kommt die Gefahr von Lawinen und nicht zuletzt verwandelt der Schnee das Geröll-Gelände außerhalb des Gletschers in Stolperfallen für jeden einzelnen Tritt. José erzählt mir später, dass dieses große, lose Geröll die häufigste Unfallursache am Ancohuma ist. Mit Schnee überzogen ist das Zeug wirklich der beschissenste Untergrund für menschliche Fortbewegung.

Da mich die Grübelei also auch zu keinem anderen Ergebnis bringt, sage ich José er kann wieder Schlafen gehen. Die wichtigste Fähigkeit eines Bergsteigers ist wohl immer noch seine eigene Grenzen zu erkennen. Meine liegt für heute hier im Hochlager und nicht erst oben auf dem 6427m hohen Ancohuma Gipfel. Ich versuche noch etwas zu schlafen, habe mir für vier Uhr nochmals den Wecker gestellt um erneut den Schnee vom Zelt zu schütteln. Liegt zuviel von dem Zeugs kommt irgendwann keine Luft mehr durch die Zeltmembran. Um sechs schaue ich erneut aus dem Zelt. José hatte vorgeschlagen zu dieser Zeit evtl. zu einem Alternativgipfel aufzubrechen. Das Wetter sieht aber noch nicht viel besser aus, José ist auch nirgends zu sehen und ich bin zu niedergeschlagen um wirkliche Motivation aufzubringen, lege mich also wieder hin.


Um sieben haben dann alle ausgeschlafen, wir räumen die Schlafsachen im Pfadfinderzelt zusammen und frühstücken Rührei. Der Himmel ist immer noch Wolkenverhangen und gelegentlich rieselt immer noch der weiße Scheiß vom Himmel. Nicht, dass ich Schnee eigentlich nicht mag, er kommt nur zur falschen Zeit. Am späten Vormittag klart es dann auf und die Sonne kommt durch. Zusammen mit José breche ich auf um noch bis zum Mittag auf dem Gletscher oberhalb des Hochlagers rumzuturnen. Das Vorankommen fällt schwer und bestätigt unsere nächtliche Entscheidung. Das eingeschneite Geröll ist ein Alptraum. Um zwölf kehren wir zum Lager zurück um abzubauen. Warten hätte nur wenig Sinn, da es wahrscheinlich einige Tage dauern würde, um die Lage substanziell zu verbessern. Außerdem sind wir nicht darauf vorbereitet, Essen würde irgendwann knapp und die Träger sind schlecht ausgerüstet, frieren hier ob nachts ziemlich. Pünktlich zum packen schneit es nochmals, so dass die gesamte Ausrüstung unweigerlich nass wird.

Als wir fertig sind erschreckt mich einer der Träger. Er kommt mir so vertraut vor. Naja, vielleicht liegt’s einfach daran, dass er meine Socken an den Füßen trägt, darüber meine Trekkingschuhe. Weiters trägt er meine Reservesonnenbrille auf der Nase und hat sich eine meiner Schmerztabletten eingeworfen. Die Ausrüstung habe ich ihm überlassen, weil er mit Halbschuhen ohne Socken und ohne Sonnenbrille auf den Berg gekommen war. Nachts hatte ich ihnen noch meinen Biwacksack gegeben. Über den Blankeisgletscher geht es wieder hinunter in Richtung Laguna Glacial. Das Spiel „Finde deinen Weg aus dem Gletscherlabyrinth“ steht heute auf Level 4, eingestellte Parameter: (a) der Berg ist scheiß hoch (b) der Gletscher ist scheiß groß (c) drecks Neuschnee (d) ein bisschen ordentliches Whiteout dazu. Zwei Stundern lang durchqueren wir Becken und übersteigen wir Rippen. Plötzlich stehen wir am Rande zum Geröll. José ist mein Held. Dadurch, dass die Steine alle nass sind, wird netterweise der Abstieg nicht nochmals angenehmer. Ich lerne also, dass sich schlechte Wegqualität wohl also immer noch einmal steigern lässt.

Wir kämpfen uns bis zur Laguna Glagial herunter und ich bin aufs erste erleichtert. Nach einer Inspektion des Lagerplatzes schlägt José vor weiter abzusteigen. Hier ist alles Nass und es hat jede Menge Pfützen. Hier zu  Zelten verspricht nasse Kälte und jede Menge Sauerei. Ich stimme José zu weiter zu gehen, vordere allerdings vom Träger meine Trekkingstiefel zurück. Die Koflach-Plastik-Schale mag zwar auf dem Geltscher toll sein, auf normalen Weggelände bringen mich die Dinger aber um. Er ist erst nicht sehr begeistert, willigt aber ein und zieht schließlich meine Plastik Stiefel seinen Halbschuhen vor. Normalerweise wären ja seine Halbschuhe o.k., aber bei dem seltenen Sauwetter sind alle Alternativen recht und billig. Wir steigen noch eine Weile ab, um schließlich eine Stunde vor der Lahuna Chilata auf einem akzeptablen Lagerplatz die Zelte aufzuschlagen. Das Abendessen schlage ich heute aus, verziehe mich und widme mich statt dessen einer satten Portion Linkin Park aus dem MP3 Player in meinem Zelt.



Am nächsten Tag steigen wir noch gemütlich zum Camparmento de Oro herunter. José verabschiedet sich mit den Trägern, er wird später mit den Mulis zurück kommen. Den sonnigen Nachmittag nütze ich, um Seele und Körper von den Strapazen erholen zu lassen. Das fällt nicht sonderlich schwer bei einem Sonnenbad hier in dieser endlosen Traumlandschaft. Dazu gibt es Dicovery Channel in live: Ein Kondor zieht seine Kreise am Himmel, ein Fuchs streicht über die Felder. Bolivianisch pünktlich, also mit zwei Stunden Verspätung gegenüber der Ankündigung, ist José um sechs Uhr abends wieder da. Ein letztes mal bekocht er mich. Frische, selbst angebaute Sorata Kartoffeln gibt es. Lecker. Das einfache ist oft das beste. Am letzen Tag steigen wir dann wieder über die Dörfer, zusammen mit den Mulis, nach Sorata ab. Das Abenteuer hat ein Ende und die zivilisierte Welt uns wieder.



 


 


Weitere Bilder:


Tag 1 | Sorata - Campingplatz Camparmento de oro

 

Bildergallerie (Bei Großansicht Blättern mit Pfeitasten):



[lt. Hoehenmesser: Aufstieg: 675 hm, Abstieg: 40hm, hoechster Punkt: 3460m, Camping: 3460m]

 


Tag 2 | Campingplatz Camparmento de oro - Laguna Chilata

 

Bildergallerie (Bei Großansicht Blättern mit Pfeitasten):



[lt. Hoehenmesser: Aufstieg: 850hm, Abstieg: 150hm, hoechster Punkt: 4204m, Camping: 4204m]

 


Tag 3 | Laguna Chilata - Laguna Galcial

 

Bildergallerie (Bei Großansicht Blättern mit Pfeitasten):



[lt. Hoehenmesser: Aufstieg: 1000hm, Abstieg: 180hm, hoechster Punkt: 5040m, Camping: 5040m]

 


Tag 4 | Laguna Galcial - Campo Alto (Hochlager)

 

Bildergallerie (Bei Großansicht Blättern mit Pfeitasten):



[lt. Hoehenmesser: Aufstieg: 655hm, Abstieg: 150hm, hoechster Punkt: 5530m, Camping: 5530m]

 


Tag 5 | Campo Alto (Hochlager) - Ancohuma Gletscher ueber dem Hochlager - Laguna Galcial - Zeltplatz an der Mine zw. Lga. Galcial und Lga. Chillata

 

Bildergallerie (Bei Großansicht Blättern mit Pfeitasten):



[lt. Hoehenmesser: Aufstieg: 380hm, Abstieg: 1450hm, hoechster Punkt: 5615m, Camping: 4450m]

 


Tag 6 | Zeltplatz an der Mine zw. Lga. Galcial und Lga. Chillata - Campingplatz Camparmento de oro

 

Bildergallerie (Bei Großansicht Blättern mit Pfeitasten):



[lt. Hoehenmesser: Aufstieg: 130hm, Abstieg: 1020hm, hoechster Punkt: 4450m, Camping: 3370m]

 


 


Informationen:


a) Karte:
Karte: Alpenvereinskarte Cordillera Real, Nord (Illampu), Ortsangaben beziehen sich auf diese Karte und moegen mit anderen Karten nicht uebereinstimmen

b) Literatur:
- Bolivia: A Climbing Guide, Yossi Brain
- Alain Mesili: http://ande-mesili.com/ (von ihm gibt's ebenfalls einen Führer in Buchform)

c) Planung/Vermittlung:
Robert Rauch ( Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! JavaScript muss aktiviert werden, damit sie angezeigt werden kann. , Buch, bolivia-tour.com/, extremrauch.com), langjaehrig in Bolivien lebender deutscher Ausnahmebergsteiger und Mountain Guide

d) Material:
http://www.andeanbasecamp.com/

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