Piz Linard - Überschreitung

Piz Linard - Überschreitung

Ort: Schweiz / Silvretta / Piz Linard, Überschreitung: Südostgrat - Südgrat
Zeit: 07.09.-09.09.2012
Aktivität: Hochtour
Mit: Uli
Inside: Bildergalerien & Kurzbericht


Piz Linard - ein impossanter Berg, höchster der Silvrettagruppe, Grate und Flanken satt zum Austoben. Der SAC-Führer beschreibt nicht weniger als 11 Anstiege. Dazu noch ein Engadinger, das ist bei mir ein satter Pluspunkt.

Mir war klar, dass die Gratanstiege technisch mäßig schwer, dafür aber lang und brüchig sind. Der Berg stand folglich länger schon auf der Liste und als Uli Interesse zeigte war schnell ein Wochenende ausgemacht. Auch war mir schnell klar, dass Uli die richtige Partnerin für ein Unternehmen dieser Skala ist, noch dazu hegt sie eine ähnliche Begeisterung für das Engadin. Blieb die einzig offene Frage bezüglich des Wetters. Aber auch hier haben wir es perfekt erwischt. Ein sattes Hochdruckfenster am Wochenende, kein Schnee und kein Eis mehr am Berg, keine Steigeisen kein Pickel, die besten Vorraussetzungen.

Dazu kommt die wirklich familiäre Chamanna dal Linard Hütte. Klein und sehr gepfelgt, dazu bestens von ganz lieben Leuten geführt. Der Nicole und dem Hannes an der Stelle noch einmal vielen Dank für die traumhafte Beherbergung!


Freitag (07.09.): Anreise und Aufstieg von Lavin (1430m) zur Chamanna dal Linard (2327m).
Auf: 900m Ab: -m



 



Schneidend kalte Morgenluft füllt jedes einzelne Bläschen unserer Lungen. Strahlen der Sonne erzeugen ein fahles Leuchten am Himmel, noch ist die Herrschaft der Nacht größer als die des Tages. Das Frühstück, das Packen, alles erfolgte mechanisch, ohne große Worte. Ebenso wie jetzt der Aufbruch.

Zehntausend Schritte wird unsere Unternehmung heute erfordern. Die erste Stunde schlendern wir dahin, der Weg erfordert kaum Aufmerksamkeit, das Gelände ist einfach. Früh dran zu sein ist ein gutes Gefühl, wir können die Hitze der Nachmittagsonne vermeiden und haben Reserven für die Tour. Die Sonne lässt den Felsklotz vor uns glühen, rotgolden ist das Licht der ersten Stunden des Tages an unserem Berg.

Unser Berg. Er ist ein vergleichsweise einsamer Genosse. Eigentlich ist er ja der König seiner Gruppe, der höchste in seiner Nachbarschaft. Er ist eine stolze Felsbastion mit zahlreichen Graten und steilen Flanken. Er ist durchaus ein Schaustück, so man ihn sieht. Das Schicksal unseres Berges ist nämlich seine Abgeschiedenheit. Ihn zu begehen ist eine völlig eigene Unternehmung. Abseits des Mainstream-Alpinismus in der Silvretta ist der Piz Linard nur von Süden zugänglich. Keine der großen Hütten bietet diesen Berg auf seiner Tourenliste. Einer der Gründe, warum wir jetzt hier sind, am Linard Pitschen, Einstieg zum Südostgrat des Piz Linard.

Dem Vergnügen ist bekanntlich der Fleiß vorangestellt. Mit dem aufgesetzten Helm geht es der Furcula über dem Linard Pitschen entgegen. Fast eine Stunde lang kämpfen wir den Geröllhang hinauf. Dies ist nicht genau der Grund, warum wir hier sind. Meine Tourenpartnerin äußert ein gewisses Missfallen, die Fluchlaute sind unüberhörbar. Steinschlag unserer Vorgänger rät uns zu einer Pause, erst als sie raus sind gehen wir die eigentliche Rinne hinauf zum Grat. Die Steine bilden hier zum ersten mal eine Felsformation, nicht unbedingt immer fest, aber Fels. Kletterei im ersten und zweiten Schwierigkeitsgrat müssen für die Rinne überwunden werden. Das Seil bleibt im Rucksack. Geht so.

Angekommen. Am Grat. Durchatmen. Steinschlag, blick nach oben, eine Seilschaft direkt vor uns. Eine mächtige Aufhäufung von Gestein voraus. Kein Ende, kein Gipfel, in Sicht. Der Grat ist nicht sehr scharf, man hat das Gefühl er wäre zig Meter breit, doch er ist steil, zu allen Seiten. Dann ein Blick hinab. Siebzig Grad mag die Flanke nach Osten hin abfallen. Sie endet in einem Tal, eintausend Meter tiefer.

Wir atmen durch. Die Hälfte meiner Trinkvorräte habe ich auf der Hütte vergessen. Egal, es bleibt kühl heute. Wir legen den Gurt an und frische Sonnencreme auf. Das Seil bleibt noch immer im Rucksack. Die Kletterei ist meist nicht sehr schwierig. Schwierig im Gegensatz gestalten sich die Möglichkeit zur Absicherung. Ganze zwei Bohrhaken haben wir am Grat gefunden, alle anderen Sicherungspunkte bedürfen eigener Installation in semifestem Gestein. Wir vertrauen auf unser Kletterkönnen.  

Schleichen im Katzenmodus ist das Motto des Tages. Von nun an will jeder Griff und jeder Tritt gut inspiziert werden. Die Last unseres Körpers gilt es gleichmäßig an möglichst viele Punkte zu übertragen. Die Wegführung ist uneindeutig, es gibt keine Markierung. Hin und wieder hat sich jemand die Mühe gemacht, einen Steinmann aufzuhäufen. Nicht selten weisen einem Trittspuren eine gute Route. Oft kann man zwischen der Kombi von Bändern und schottrigen Rinnen oder etwas festerer Kraxelei direkt am Grat wählen.

Drei Stunden Kletterei am Grat sind nun vergangen. Drei Stunden unendliche Aufmerksamkeit. Ab und zu mal ein Blick auf die Umgebung, ein Bild aufnehmen, im Kopf oder mit dem Photo. Drei Stunden ohne auch nur einen Gedanken an die Arbeit, an die Probleme dieser Welt, kein Platz im Kopf. Drei Stunden kämpfend um Höhenmeter entgegen dem Gipfel zu machen, kämpfend nicht für einen Augenblick die Konzentration oder das Gleichgewicht zu verlieren, nicht verlieren, nicht den Kampf gegen die Schwerkraft verlieren.

Fünftausend Schritte sind nun getan. Erst zwei Steinmänner und dann eine Gruppe von genießenden Kollegen künden vom Ende des Aufstiegs. Der Gipfel ist erreicht, uns wird gratuliert und wir gratulieren uns. Es ist ein perfekter Tag, es ist eine perfekte Ausgelassenheit am Gipfel. Perfekt auch die Aussicht am Gipfel, alle kann man sie sehen: Wildspitze und Weißkugel im Osten, Ortler Alpen und Bernina im Süden, Berner und Glarner im Westen und schließlich das Silvretta und die Kämme des Nordens.

Eineinhalb Stunden verweilen wir am Gipfel, verabschieden die Deutschschweizer und die Italienischschweizer sowie den Vorarlberger. Zwei Südtiroler unterhalten uns mit dem Witz vom Pfarrer und dem Fahrrad: Der Pfarrer fragt ein Schaf seiner Gemeinde nach dem Verbleib seines gestohlenen Fahrrades. Das Schaf der Gemeinde hat keine Ahnung, aber einen guten Rat. Der Pfarrer solle doch am nächsten Sonntag über die zehn Gebote und insbesondere den Diebstahl predigen. Es würde schon einer rot anlaufen. Zwei Wochen später begegnen sich die selbigen wieder. Auf die Frage nach dem Erfolg der Predigt erwidert Hochwürden: Dies sei eine gute Idee gewesen, als er an die Stelle vom Begehren des nächsten Weibes kam sei ihm dann schließlich eingefallen, wo er das Fahrrad habe stehen lassen.

Dann brechen wir auf. Für den Abstieg durfte ich mir den Südgrat wünschen. Klar, dass das deutlich länger als der Normalweg ist, allerdings ist eine Überschreitung über zwei Grate eine feine Sache. Traum eines jeden Bergsteigers. Das Wetter ist perfekt, der Einstieg des Grates leicht zu finden. Leicht zu erreichen war der besagte Einstieg allerdings erst mal nicht. Steile Geröllhänge queren, ganz unfein. Doch irgendwann geht der Schotter dann in „vornehmend fest“ über.

Schwierigkeit und Wegfindung sind vergleichbar mit dem Südostgrat. Nur dass der Südgrat deutlich weniger begangen scheint. Er weist weniger Wegspuren, dafür noch mehr loses Gestein auf. Die Route am Morgen haben wir mit anderen Seilschaften geteilt, hier sind wir allein. Auch hier verzichten wir gänzlich auf das Seil. Mal führt die Route auf dem Grat, mal in der Flanke daneben.

Als wir nach einer Weile von der Flanke auf den Grat zurückwechseln sind wir uns über die Route unsicher. Ohne es zu merken sind wir der Flanke folgend rechts abgebogen. Dies ist der Südwestgrat, ein wenig einladend aussehender Zeitgenosse. „Not recommended“ war der Kommentar von Summitpost zu dieser Route. Folglich braucht es nur wenig Überredung die Höhenmeter zum Abzweig zurück zu gehen und dem Südgrat zu folgen. Grate im Abstieg sind trickreich.

Einige Platten lassen uns am Südgrat nach links in die Flanke ausweichen. Erneut folgt ein Verhauer aufgrund des verpassten Abzweigs. Diesmal dauert es deutlich länger, bis wir unseren Fehler bemerken. Flucht nach vorne? Unser Nebengrat scheint steil abzubrechen. In die Rinne? Auch diese fällt am Ende steil ab, dazu das Lotteriespiel mit dem Steinschlag. Zugegeben, kurz sind wir auch ziemlich desorientiert. Schließlich liefert ein erneuter Aufstieg Klarheit. Zurück am Südgrat fällt uns ein Stein vom Herzen. Jetzt sollte alles klar gehen. Sollte. Jedenfalls schwinden unsere Zeitreserven und der Tag wird lang.

Tatsächlich passt es nun. Alles in Ordnung. Quälend ist nun aber jeder Schritt. Noch einmal konzentrieren, noch einmal die Kraft für einen Kletterzug aufbringen, nicht auf einen losen Stein trauen. Doch dann ist die Furcola Glims in Sicht. Ziel erreicht. Die Herde Steinbockjungs vom Morgen hat sich verkrümelt. Schade, allerdings müssen wir uns aber auch beeilen, wir sind schon spät dran für das Abendessen auf der Chamanna dal Linard. In weiser Vorraussicht, oder eher aus glücklicher Planung herraus, haben wir dort zwei Nächte reserviert. Immer noch haben wir eine gute Stunde Abstieg vor uns, meine Fußsohlen brennen jetzt schon.

Es ist schon halb Sieben als wir am little Paradiese, der Chamanna dal Linard, eintreffen. Shen, der Hüttenhund, liegt eh gemütlich auf der Terasse. Auch die liebe Nicole rät uns von Stress ab: „Immer mit der Ruhe, wir hieroben haben keinen Stress. Erholt Euch, macht Euch frisch und dann essen wir.“ Hannes, der Wirt, stellt uns ungefragt ein Bier vor: „das habt ihr Euch jetzt wohl verdient!“. Alles was wir begegnen ist ein dankbares und zufriedenes Lächeln. Wir verstehen uns.

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Samstag (08.09.): Chamanna dal Linard (2327m) / Südostgrat (kurze Variante, Einstieg nörlich von Linard Pitschen, Punkt 3035) / Piz Linard (3410m) / Südgrat / Fuorcla da Glims (2808m) / Chamanna dal Linard (2327m)
Auf: 1300m Ab: 1300m (nominell, ohne Verhauer, 1100m)
Schwierigkeit: ca. II, weglos, oft brüchig, meist ausgesetzt, Südostgrat ist deutlich öfter begangen, 2 Bohrhaken vorhanden, Südgrat weniger Wegspuren, noch weniger fest


Bilder Teil I:


 



Bilder Teil II:


 


 


Sonntag (09.09.): Chamanna dal Linard (2327m) / Abstieg nach und Bummel durch Lavin (1430m)
Auf: -m Ab: 900m



 




Links:
SAC Clubführer: Bündner Alpen (Band 8)
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