Biancograt - SO - Biancograt

Biancograt

Biancograt:

 

Von der Tschierva Hütte über den Biancograt bis zur Marco e Rosa Hütte:
Sonntag - 11.09.2011 (einschließlich der frühen Morgenstungen des Montag Morgen)

Mainstream Alpinismus ist eigentlich nicht unbedingt meine Sache, gewöhnlich fühle ich mich sehr viel mehr vom Einsamen und Unbekannten angezogen. Es gibt aber auch populäre Dinge, denen ich mich schwer widersetzen kann. Mehrfach war ich nun schon auf verschiedenen Touren im Bernina und das Bernina war noch viel öfter schon in der Ferne auf anderen Touren auszumachen. Wann immer man diese Berge sieht fällt nahezu zwingend der Blick auf eine der magischten Linien der Alpen: der Biancograt! Es ist als hätte ein Künstler Schnee auf einen langen Felsgrat aufgetürmt und die Flanken mit einem riesigen Messer so zurechtgeschnitten, dass sich ein präziser rechter Winkel ergibt. Ebenmäßig und weithin sichtbar zieht dieser Grat hinauf bis kurz unter den Piz Bernina, den einzigen 4000er der Ostalpen. Entsprechend bekannt und populär ist dieser Anstieg unter den Bergsteigern.

Entsprechend habe auch ich mich bisher schon mit der Route beschäftigt, hatte aber bislang noch keine Pläne. Bisher lag die Tour auch etwas außerhalb meiner Fähigkeiten. Doch als mich Milan fragte ob ich auf die Tour Lust hätte, fing ich ernsthaft an darüber nachzudenken. Im Winter hatte ich einiges im Eis und im Sommer einiges im Fels unternommen, was deutlich über den jeweiligen Einzelschwierigkeiten der Tour liegt. Auch hatte ich diesen Sommer schon ein paar lange Sachen in größerer Höhe unternommen, so dass dies auch das nicht das Problem sein sollte. Die Sache war ernsthaft in meine Reichweite gekommen und ich hatte für diese Saison noch Hunger auf eine satte Tour. „Ja, lass uns das machen!“ war die Antwort, frei von Zögern und Zweifeln, die mich selbst etwas überraschte als mich Milan fragte ob ich nicht Lust auf den Biancograt hätte. Schnell war ein Wochenende ausgemacht und in der Arbeit zwei Tage Zusatzurlaub beantragt.

Um es vorweg zu nehmen: Am Ende war es deutlich mehr Abenteuer als mir recht gewesen war. Wir haben Fehler gemacht und die Tour unterschätzt, wobei wir keine technischen Schwierigkeiten hatten sondern das eigentliche Problem die Länge der Tour war und somit das sich übel verschlechternde Wetter.  Ich will hier nichts beschönigen, freue mich aber darüber, dass es nie wirklich heikel wurde und die Besonnenheit und Erfahrung der teilweise „aufgelesenen“ Begleiter zu keiner kritischen Situation führten.

Es ist Samstag Abend auf der Tscheriva Hütte, nach einer ordentlich ausgedehnte Zustiegstour mit 1700 Höhenmetern haben es gerade eben rechtzeitig zum Abendessen  geschafft. Wir besprechen die Tourenplanung anhand des Wetterberichtes. Für Sonntag Abend und Montag Morgen ist schlecht Wetter gemeldet. Schnell wird klar, dass das einzig verbleibende Fenster der Sonntag sein wird. Folglich muss die für Sonntag geplante Eingehtour ausfallen und wir machen anstelle dieser das Hauptprogramm. Kurz plagen uns noch Zweifel, ob das Zeitfenster reicht, doch drei andere Seilschaften wollen auch gehen, wird’s uns schon auch reichen. Keine einfache Entscheidung, allerdings die einzige Chance auf die Tour.

Morgens kommen wir als letzte von der Hütte weg, brauchen aber nur eine Viertelstunde um die richtige, am Vorabend nicht ausgekundschaftete, Wegführung zu finden und die vergessenen Stöcke auf der Hütte aufzulesen. Damit sind wir erst mal schneller als die zwei Seilschaften, die gerade noch Richtung Piz Morteratsch irren.

Die im Rother Ostalpen Hochtourenführer beschriebene Markierung mir fluoreszierenden Farben hat inzwischen ausflouresziert. Neben den klassischen, nicht leuchtenden Farbmarkierungen sind heute nur noch einige montierte Fahrradreflektoren wirklich hilfreich bei der Wegfindung. Irgendwann verliert sich die Wegstruktur in Geröllhalden, die, so scheint es, mehrfach jährlich umgeformt werden. Wir finden aber unseren Weg bis zu einer Firnflanke die von der einen Seilschaft im Stirnlampenlicht vor uns durchklettert worden war. Ein junges Pärchen ist nun zu uns aufgeschlossen. Sie sind gut drauf und haben ihren nächtlichen Verhauer schnell Wett gemacht. Wir lassen Sie ziehen und folgen Ihnen die fast blanke 45 Grad Eisflanke hinauf. Erst sorgt der Bergschrund für etwas Arbeit, dann eine kurze schottrige und nicht sicherbare Felspasage für einen gut aufgefüllten Adrenalinpegel. Eine deutsche zweier Mädelsseilschaft schließt in der Fuorcla zu uns auf.

Als die Felsschwierigkeiten beginnen treffen wir nochmals kurz auf das Schweizer Pärchen. Sie finden die Route nicht. Nach gemeinsamer Literaturrecherche findet sich schließlich der Einstieg in die Kletterei. Sie ziehen wieder davon. Wenig später und etwa gleichzeitig durchklettern wir und die deutschen Mädels die mehreren Seillängen des ersten Felsteils. Nachdem der Einstig gefunden war, erschloss sich der Rest ziemlich logisch. Ein bisschen Zupacken in erstaunlich viel festem Fels, nicht so schlimm wie befürchtet.

Der dann folgende Firngrat wird erst noch einmal durch einen Felsturm unterbrochen. Dieser lässt sich seitlich umgehen, doch der Übergang vom Fels in die unumgängliche Eisflanke gestaltet sich unangenehm. Das gut 45° steile Blankeis ist heikel. In einer Spalte finde ich schließlich stattes Blankeis für eine Sicherung und lasse Milan vorsteigen. Immerhin fällt die Flanke unter uns etwa gleichförmig steil bis auf den eintausend Meter tiefer liegenden Morteratsch Gletscher ab. Zweimal löst sich spontan Felsschlag von oben, den fussballgroßen Brocken kann ich jedoch rechtzeitig in die Spalte ausweichen. Endlich folge ich Milan nach oben zu seiner sehr vertrauenerweckenden Pickelsicherung. „Was besseres geht hier halt nicht!“ ist seine Ausrede.

Erneut wird das Seil weggepackt. Dann sind wir am eigentlichen Biancograt! Die von weitem sehr homogen wirkende Linie gliedert sich faktisch in verscheiden Steile Abschnitte. Wir gehen das ohne Sicherungung, die Bedingungen sind gut. Allerdings dürften die wenigen Zentimeter Firn in einigen Passagen vielleicht bald verschwunden sein. Dann wird es lustig!

Am Piz Bianco schließen wir wieder zu den Mädels auf. Es ist bereits später Nachmittag und das schlechte Wetter, das lange nur in den niedrigen Tälern zu sehen war, bricht inzwischen hierhin durch. Dieser Vorgipfel des Piz Berninas markiert das Ende des Firngrates und den Beginn weiterer Felskletterei. Der Fels ist teilweise eingeschneit und vereist, so dass wir eiernd auf Steigeisen klettern. Wir sichern das meiste. Es gilt es die klettertechnische Schlüsselstelle zu überwinden und anschließend  geht es zwei Abseilstellen hinunter. Das gelingt soweit ganz gut. Eine letzte kombinierte Firn- und Felsflanke, praktisch nicht sicherbar, führt schließlich auf den Piz Bernina. Nach drei weiteren horizontalen Seillänge auf dem Grat erreichen wir den Hauptgipfel des Piz Bernina.



Es geht schon deutlich auf den Abend zu und die Lage ist ohne Frage ernst. Unsere weitere Abstiegsroute über dem Spallagrat bleibt fordernd, nur kurz ruhen wir unterhalb des Piz Berninas aus bevor wir den weiteren Abstieg angehen. Als Milan nach der ersten Abseile vom Spallagrat sucht fällt mir auf, dass er seine Stirnlampe schon eingeschalten hat. Verdammt, so spät ist es schon. Die erste Abseilfahrt gehört mir, Erleichterung überkommt mich als ich nach 25m im Schein der Stirnlampe den nächsten Abseilstand glänzen sehe. Wir sind inzwischen als feste 4er Gruppe mit den Mädels unterwegs. Sofort seilen wir mit einem zweiten Seil die nächste Länge hinunter.

Im folgenden Gehgelände dauert es, es ist inzwischen finstere Nacht und leichter Schneefall hat eingesetzt, etwas, bis wir den nächsten Abseilstand finden. Unsicherheit macht sich immer mehr breit, wir sind schon lange nicht mehr genau orientiert und so langsam geht es auch Mitternacht zu. Trotz etwas unklarer Situation des nächsten Abseiler folgen wir alle zu einem Punkt. Es gibt von hier einen vermeindlich offensichtlichen Weiterweg. Wir seilen in dessen Richtung ab, finden aber keine sichere Route. Ein kurzes Telefonat mit der Marco e Rosa verschafft uns die Sicherheit, dass wir nicht mehr sehr weit weg und grob richtigsind. Doch die genaue Route bleibt vor uns verborgen, wir finden einfach nicht weiter und auch der GPS Track hilft in dem steilen Gelände nicht weiter.

Es ist gegen ein Uhr nachts als ein Grollen die Luft durchzieht. Wir beschließen keine weitere Aktionen am Grat mehr durchzuführen, sammeln Milans neues Seil auf, das sich zuletzt nicht mehr abziehen lies, und kauern am Ende der dritten Abseilstelle zusammen. Wir legen alles Eisen ab, binden uns in das jeweils am Stand fest gemachte Seilende direkt ein und kauern für ein Sitzbiwak mit allen bescheidenen zur Verfügung stehenden Mitteln zusammen. Die Gemütlichkeit ist vorbei und meine Beschwerde darüber, dass keiner Glühwein dabei hat, wird zur Kenntnis genommen.  Nichts weiter. Der Felsvorsprung über uns schützt kaum vor Kälte. Auch nicht vor dem Gewitter, das aber zum Glück nie wirklich nahe kommt.

Eine Stunde schlottern wir so dahin, dann hört zwar das Grollen auf, nicht aber jedoch der Schneefall. Vor dem Abbruch hatten wir noch einen vielversprechenden alternativen Weiterweg gefunden. Den erkundigen wir nun. Schließlich klart auch das Wetter wieder auf und wir können zeitweise die Marco e Rosa Hütte sehen. Mutig seilt eine der Mädels eine weitere Absseillänge hinunter, das Seil reicht gerade so bis zum Beginn des Gletscher hinunter. Wir kommen nach. Erneut lässt sich Milans nagelneues Seil nicht abziehen. Wir geben es auf, da wir noch zwei weitere dabei haben, und seilen die Firnflanke zum Gletscher hinunter ab.

Im weiteren lässt sich die Firnflanke dann seilfrei begehen und als es flacher wird, bilden wir wieder eine Gletscherseilschaft. Nach einer halben Stunde Hatsch stehen wir schlussendlich vor der beleuchteten Marco e Rosa. Wir klopfen den Schnee runter als uns ein komisches Stammeln von innen begrüßt. Wir hatten die Hütte nachts mehrfach angerufen und man hat uns wohl erwartet, wohl auch schon über uns geflucht. Wahrscheinlich ist es besser, dass wir nichts verstehen. Bei allem schlechten was ich über die Hütte vorher gehört habe muss ich an diesem Tag meine Vorurteile über die Marco e Rosa kräftig über den Haufen werfen, auf der Hütte hat alles gepasst! Lediglich Freunde der absoluten political Correctness mögen sich ob der Anzahl der Abbilder von wenig oder nicht bekleideten Frauen gestört fühlen. Ich fand das nicht schlimm und mit irgendwas müssen sich die Kerle ja auch trösten, da oben in der Einöde wo dann nachts Leute anrufen und einen aus dem Bett werfen.

Inzwischen ist es fünf Uhr Morgens, als wir den Gastraum betreten sind die ersten schon am Frühstücken. Wir sehen auch unser schweizer Pärchen vom Vortag wieder. Nach einem kurzen Frühstück begeben wir uns in die Betten. Heute wird Wellness Tag, ausschlafen und die Mädels verständigen ihre Chefs, dass sie einen Tag später zur Arbeit kommen werden...